Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V.


"Der Geruch der Bücher".
Einblicke in die Bibliothek
von Wolfgang Hilbig"
 
Bücher, Notizen, Briefe
& Arbeitsmethoden Hilbigs.
Eine Veranstaltung der
Akademie der Künste
zum 15. Todestag 2022.

 

 

"Herr Hilbig,
bitte Platz nehmen
in der Weltliteratur!"

Podium mit:
Katja Lange-Müller,
Clemens Meyer,
Ingo Schulze,
Peter Wawerzinek,
Alexandru Bulucz,
moderiert von
Andreas Platthaus


 

Die Wolfgang-Hilbig-
Gedichtpatenschaft

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Zeit vergeht nicht. Sie ist da, während wir vergehen. Wir schwimmen in ihr, tauchen hinab, messen, zählen und kartografieren sie, lesen sie bei wechselndem Licht ... Jürgen Hosemann debütiert mit einem Buch über (Un-)Endlichkeit, in der ein Punkt aufleuchtet: der 31. August, der Anlass für eine lange Betrachtung des Meeres und der Geburtstag Wolfgang Hilbigs ist.

Jürgen Hosemann war Lektor Wolfgang Hilbigs bei S. Fischer und ist Mitherausgeber seines Gesamtwerks, dessen Abschlussband bislang nicht erscheinen konnte. Hosemanns eigenes Erzähldebüt indes, jüngst vorgelegt im Berenberg Verlag, ist (auch) eine Verneigung vor Wolfgang Hilbig – vor dessen dekonstruktivistischem Weltverständnis, romantischer Grundhaltung und symbolistischer Schreibweise, kurz: vor Wolfgang Hilbigs Glaube an die "Wahrnehmungen in der Finsternis". Derartige Wahrnehmungen überträgt Hosemann auf das Ganze eines Tages, der mit der Dämmerung beginnt und sich mit nächtlichem Leuchten zurückzieht. Dann ist das Sichtbare unsichtbar und das Unsichtbare sichtbar, erhellt durch meine Gedanken. Es ist so dunkel, als wolle das Licht nie mehr zurückkehren. So dunkel, dass die Erinnerung das Einzige ist, was man sieht. So dunkel, dass ich alles sehen kann.

Dazwischen finden taghelle Beschreibungen ihren sonnenbeschienenen Platz: Miniaturen, Lektüreschnipsel, Fantasien …, das alles in sommerlich-leichtem Ton, den der Erzähler mit Verve anschlägt, während er die Geschehnisse an der Uferpromenade der italienischen Lagunenstadt Grado aufzeichnet, für den Zeitraum von fast 24 Stunden (denn es ist ein unvollkommener Tag). Und so ist „Das Meer am 31. August“ auch ein Urlaubsbuch, sehr vergnüglich zu lesen, über sehr skurrile Begegnungen mit Menschen und Dingen: dem Taucher, der sich vor dem Unterwassergang mit Bier einreibt, der Kellnerin, die immer dann, wenn der Erzähler sich auf den Weg zum Strandcafé begibt, ihren Schoßhund ausführt (offenbar hatten er und ich den gleichen Rhythmus) oder den Elektrokarren der Polizia Municipiale: Solange die italienische Polizei Fahrzeuge benutzt, die wie eine Kreuzung aus Rollstuhl und Golfwägelchen aussehen, wird sie ihr Autoritätsproblem nicht lösen.

Am 31. August, am Ufer, wird der Tag aufgeblättert, der Leser nimmt sich heraus, was ihm beliebt. Der eine wird Zeuge eines phänomenalen, ungeheuren Spiels der Signifikanten: Welche Zeichen setzt dieser Tag auf dem Meer, an Land, am Himmel? Hat sich da, mitten in den ewigen Halbheiten und Missgeschicken, nicht etwas Großes am Himmel gezeigt? Der andere fühlt sich ob der eingestreuten absurden Häppchen, eingelegt in die Wiederholung der Dinge, an Camus erinnert – nicht nur, wenn die Kinder im flachen Meer, immerfort abrutschend, mit Inbrust einen aufblasbaren Haifisch zu erklettern versuchen. Der Dritte fühlt sich getröstet vom Ewigen, den Kreisbewegungen des Textes, seiner leisen Metaphorik. Dort […] würde die Zukunft erscheinen […]. Dann werde ich mich im Aufstehen selbst sitzen lassen. Etwas von mir wird hierbleiben. So wie etwas von mir bei den Menschen geblieben ist, die ich einmal gekannt habe. Wenn das Licht kommt, wird mein Leben aufstehen und ohne mich nach Hause fahren.

Jürgen Hosemann, Verlagskaufmann und Germanist, lässt Wolfgang Hilbigs Werk in unzähligen Reminiszenzen aufscheinen. Und auch etwas von Roger Willemsen, dem Hosemann eng verbunden war, ist „bei den Menschen geblieben“, aufgehoben in dieser Sommererzählung. Aber ohne das literaturwissenschaftliche Besteck gelesen wird „Das Meer am 31. August“ womöglich ein noch schöneres Erlebnis sein. Nicht drei unendliche Bände verlorene Zeit, nicht ein rasanter Tag in Dublin, sondern das Rätsel, das selbst zu singen anfängt, und am Ende eine Frage, still und aufrüttelnd zugleich, gesprochen in „die sommersee“. [W]ann gelingt uns jenes lied vom licht, das dich weckt aus dem einverständnis deiner tiefe?

 K. H.

Foto Meer31Aug2


Hier finden Sie das Buch

und einen Podcast mit Jürgen Hosemann in Gespräch und Lesung